F. Renken: Frankreich im Schatten des Algerienkrieges

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Title
Frankreich im Schatten des Algerienkrieges. Die Fünfte Republik und die Erinnerung an den letzten großen Kolonialkonflikt


Author(s)
Renken, Frank
Published
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
569 S.
Price
69,00 €
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Matthias Middell, Global and European Studies Institut, Universität Leipzig

Diese vorzügliche Monografie misst das Gewicht der Erinnerung an den Algerien-Krieg in der französischen Gesellschaft seit de Gaulle der nicht zu gewinnenden militärischen Auseinandersetzung ein Ende setzte, auch um die Armee seines Landes auf die strategische Bedeutung der atomaren Aufrüstung (force de frappe) umzustellen. Ziel der bei Peter Steinbach, am Centre Marc Bloch vorbereiteten und 2004 an der FU Berlin verteidigten Dissertation ist ein Gegenentwurf zu Benjamin Storas „La gangrène et l’oubli. La mémoire de la guerre d’Algérie“ (1992), indem nicht von einem einheitlichen nationalen Gedächtnis ausgegangen, sondern die Vielfalt konkurrierender Erinnerungsentwürfe und ihre politische Instrumentalisierung rekonstruiert wird. Dieser Aufgabe entspricht auch die Gliederung, die konsequent nach den tatsächlich das Reden (bzw. für lange Zeit: das Schweigen) über den Algerienkrieg beherrschenden Akteuren fragt bzw. nach möglichen, aber nicht realisierten Gegenentwürfen fahndet. Der erste Abschnitt stellt de Gaulle in den Mittelpunkt, dessen Schwenk von der Kritik an den vermeintlich maroden Institutionen der IV. Republik zur Beendigung der sog. „Spezialaktionen zur Wiederherstellung der Ordnung“ nicht nur die rechtsextremen Verschwörer der OAS frustrierte, sondern zugleich das Fundament für ein langes Beschweigen der Niederlage in Nordafrika legte. Dass dies durchaus mit dem Bemühen um eine neue, nun coopération genannte Politik einher ging, zeigt der nachfolgende Teil der Arbeit, der mit dem Scheitern des co-développement unter Mitterrands und der vorsichtigen Verabschiedung de Gaullescher Prinzipien der Algerienpolitik unter Chirac endet. Warum das Gegengedächtnis der französischen Linken zum Algerienkrieg letztlich schwach und weitgehend wirkungslos blieb, analysiert Teil IV. Bevor sich der Vf. denn Anhängern der fortdauernden Idee von einer Algérie française zuwendet, die an ihrer Dolchstoßlegende von einer im Felde unbesiegten Armee und dem Verrat durch die politische Klasse bis heute festhalten und in Jean Marie Le Pen einen äußerst aktiven Popularisierer ihrer Idee gefunden haben, betrachtet Frank Renken die ehemaligen Soldaten und argumentiert, dass diese zwar immer wieder ihr Verlangen nach Anerkennung ihrer Kriegsteilnahme (mit der daraus folgenden Anerkennung von Ansprüchen analog zu jenen, die den Weltkriegsteilnehmern gewährt wurden) vortrugen, aber letztlich sozial zu heterogen waren und sich nicht ausdrücklich politisch organisierten, so dass ihre Interventionen auf die Art und Weise, wie in Frankreich der kolonialen Abenteuer in seiner Geschichte gedacht hat, wenig Wirkung ausübten.

Erst in den 1990er Jahren öffnete sich die französische Gesellschaft für die Erkenntnis, dass in ihrem Namen Folter und andere Verbrechen begangen wurden, dass Algerien kein genuiner Teil des Landes und der Nation war, in dem auch im Übrigen rechtlose Muslime wohnten, sondern dass mit der Dekolonisierung eine lange Phase direkter Unterdrückung endete, die den Weg für eine eigene Nations- und Staatsbildung öffnete. Wie heftig das Land von dieser sich langsam und nur gegen massive Widerstände ausbreitenden Einsicht durchgeschüttelt wurde, zeigen die Auseinandersetzungen um die sog. Geschichtsgesetze, die 2005 in der Dekretierung eines positiven Bezuges auf Frankreichs Präsenz in „Übersee“ für den Schulunterricht und die historische Analyse kulminierten. Dagegen erhob sich ein Sturm der Entrüstung, der im Klima scharfer sozialer Konflikte in den Pariser Vorstädten gleichermaßen von Sorge um die Forschungsfreiheit wie um die Stabilität der Einwanderungsgesellschaft getrieben wurde. Schließlich musste das Parlament sein unglückliches Gesetz in der Versenkung verschwinden lassen. Renkens umfangreiche Untersuchung hilft zu verstehen, was den national-erinnerungsgeschichtlichen und den kolonial-historischen Hintergrund dieser Auseinandersetzung bildet. Darüber hinaus kann sie aber auch als methodisch vorbildlich durchgearbeitete Studie zu Erinnerungskultur und Geschichtspolitik gelesen werden, der eine Resonanz weit über den konkreten Fall hinaus zu wünschen ist, denn im Meer der Befassung mit kollektivem und kulturellem Gedächtnis zeichnet sie sich durch erfreuliche Stringenz und analytische Präzision aus, wo normalerweise Metaphernvielfalt und sozialgeschichtliche Unschärfe dominieren.

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Published on
04.08.2011
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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